Gegen die Konditionierung

Im Gespräch Gelber Salon
Foto A. Schirmer

Über die kuratorische Arbeit von Antje Scholz

Texte zur Selbstreflexion des Oderbruchmuseums II

Das Gästebuch des Oderbruchmuseums ist eine interessante und für uns Betreiber erfreuliche Lektüre. Wir veröffentlichen die Eintragungen jedes Jahr im Umschlag unserer Werkstattberichte. Selten gibt es Kritik, die mit Abstand meisten Eintragungen beschreiben das besondere Erlebnis, das ihnen dieses Museum ermöglicht. Die Besucher sprechen von den Empfindungen, die sie selbst beim Besuch gehegt haben, sie gebrauchen Worte wie „berührt“ und „begeistert“, „liebevoll“ und „wunderbar“. Ein Eintrag des letzten Jahres lautet: „…ich bin ein bisschen beschämt, da ich nicht erwartet hätte, hier solch einen wundervollen Ort vorzufinden“. Das sind Worte, die auf die Empfindung von etwas Wichtigem verweisen.

Diese Spur zieht sich immer deutlicher durch die Jahre, in denen sich das Museum seit 2016 entwickeln konnte. Es ist unschwer zu erraten, dass sie sich, neben der Würdigung unserer freundlichen und hilfreichen Besucherbetreuung, in erster Linie auf die Gestaltung der Räume beziehen. Ich möchte deshalb ein paar Überlegungen zur kuratorischen und gestalterischen Arbeit im Lichte dieser Besuchserlebnisse anstellen, wie sie insbesondere durch Antje Scholz erbracht wird, verbunden mit der Frage, was das Spezifische an dieser Arbeit ist, und inwiefern es über das Oderbruchmuseum hinausweist. Dafür muss ich einen kleinen theoretischen Umweg machen.

Ich habe in den frühen neunziger Jahren studiert. Damals waren postmoderne Theorien in Mode, und auch ich habe mich auf ihre vielen Spielarten gern eingelassen. Das hat mir damals Freude gemacht, allerdings hätte ich mir nicht träumen lassen, welche Macht vor allem die konstruktivistischen Ideen einmal über die Gesellschaft bekommen würden. Ich will es einmal ganz simpel ausdrücken: Nach diesen Theorien kommt es eigentlich gar nicht darauf an, was in Wirklichkeit der Fall ist, entscheidend sind eigentlich nur die Bilder und Vorstellungen, die wir von der Welt im Kopf haben. Heute hat sich dieser Gedanke, befeuert durch die Omnipräsenz der Internetmedien, vollkommen in der Gesellschaft durchgesetzt. Es scheint nicht mehr darauf anzukommen, wie die Dinge wirklich sind, es geht in erster Linie darum, wie sie in der Öffentlichkeit dargestellt und beurteilt werden.

Ich betreue immer wieder studentische Arbeiten zum Thema Landschaft, in denen gebetsmühlenartig auf das konstruktivistische Paradigma hingewiesen wird, wonach die Menschen die Landschaft (bloß) in ihrem Kopf haben. Aus den Vorstellungen vom Raum kann nach so einer Prämisse natürlich nicht abgeleitet werden, wie diese Landschaft tatsächlich ist. Das klingt erst einmal plausibel, aber es hat zwei unangenehme Konsequenzen.

Erstens: Die Frage, wie denn die Welt tatsächlich beschaffen ist, bleibt den Methoden der Wissenschaft vorbehalten. Diese reklamieren für sich und ihre Verfahren den Zugang zum Objektiven. Das ist natürlich Unsinn; wissenschaftliche Methoden sind Hilfsmittel für standardisierte Erkenntnisprozesse, das macht ihre Ergebnisse aber in keiner Weise objektiv. Aber ehe das jemand bemerkt hat, ist die nichtwissenschaftliche Erfahrung des Menschen längst zur subjektiven Vorstellung degradiert. Das konstruktivistische Paradigma dient heute der massenhaften Abwertung menschlicher Erfahrung. Und dies lässt sich in unserer Gesellschaft auch leicht zeigen. Sie stellt die Experten in den Mittelpunkt, die „normalen“ Menschen werden zu Empfängern ihrer Erkenntnisse. 

Zweitens: Wenn das, was in den Köpfen der Menschen ist, ohnehin nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, wird es zur Manipulationsmasse. Man schlussfolgert: Wer die Welt verbessern oder – wie es dem Sound der Gegenwart entspricht – sie vor dem Kollaps retten will, müsse das Bewusstsein der Menschen ändern. Denn nur bei geeigneter Bearbeitung werden diese den notwendigen Veränderungen politisch zustimmen und auch ihr persönliches Verhalten ändern. Darin wiederum steckt ein großes Konditionierungsprogramm. Ich stelle immer wieder fest, wie weit verbreitet dieser Gedanke heute ist. Kaum jemand macht sich die Anmaßung bewusst, die in dieser Idee steckt, bedeutet sie doch, den anderen Menschen ihren freien Willen und ihr eigenes Erkenntnisvermögen abzusprechen.

Was ist das Ergebnis dieser Entwicklung? Auf der einen Seite gibt es eine objektive Welt, zu der aber nur privilegierte Experten Zugang haben, die dann auch die Politik beraten. Und auf der anderen Seite gibt es Menschen, die subjektive aber hinsichtlich der Wirklichkeit irrelevante Vorstellungen haben, die deshalb korrigiert werden müssen. Dieses Programm als gesellschaftliche Leitidee vorgestellt, ist letztlich eine waschechte Dystopie, in die wir bereits mit mindestens einem Bein hineingelaufen sind.

Ist dagegen ein Kraut gewachsen? Auf den ersten Blick möchte man meinen, es wäre angemessen, das subjektive Empfinden des Einzelnen gegen die Anmaßung der Objektivität Sturm laufen zu lassen. Aber diese künstlerische Strategie scheint in eine Sackgasse geraten sein. Das Aufbäumen des Einzelnen (Wahnsinn, Trauer, Schmerz, Glück oder Rausch) schien im zwanzigsten Jahrhundert noch wirksam gegen die unbarmherzige Herrschaft des vermeintlich Objektiven, in der bildenden Kunst, wie auch in der Musik. Aber diese Empfindungen haben es schwer, gegen die „zweite Wirklichkeit“ der medialen Inszenierung und gegen die Übermacht des Objektiven zu bestehen. Es scheint immer schwieriger zu werden, aus dem individuellen Ausdruck heraus wirksam gegen die allgemeine Konditionierung anzugehen. Daraus erwächst ein grundsätzliches Problem für die Kunst der Gegenwart.

Und wie ist es in den Museen? Ihre Ausstellungen sind gestaltete, oft sogar inszenierte Räume, das war vor zweihundert Jahren nicht viel anders als heute. Aber während Museen vor 100 Jahren oftmals Leitideen des Bürgertums zum Ausdruck brachten, seine Großzügigkeit, seine Macht, sein ästhetisches Vermögen, seinen Wissensdurst und -anspruch, seine kolonialen Herrschaftsansprüche und vieles mehr, sind sie heute in den größeren Häusern mit guter Ausstattung meist zu Inszenierungen des Objektiven geworden, an denen die Besucher durch interaktive Module partizipieren dürfen. Es gibt Ausstellungen, die wie große Einbauküchen daherkommen, in denen historische Objekte stehen, über deren Bedeutung und Aussagekraft kein Zweifel zugelassen wird. Vermittlung in dieser Form ist nichts anderes als der Transport vermeintlich gesicherten Wissens von A nach B. Durch die Inszenierung des Lichts, der Vitrinen und der eingesetzten audiovisuellen Medien entstehen sinnliche Reize, darin erschöpft sich aber oft auch schon der Schönheitsanspruch des Museums.

Die Ausstellungen, von denen ich hier spreche, werden mit viel Geld von Agenturen gestaltet. Da sind Profis am Werk, die wissen, was ein Quadratmeter Ausstellungsfläche kostet, wie groß die Schrift und in welcher Höhe sie angebracht sein muss, was die neuesten technischen Trends sind und wie man einen starken zielgruppenoptimierten Eindruck erzeugt. Das war es aber dann auch. An der Herrschaft des vermeintlich Objektiven ändern diese Gestaltungen nichts – und sie haben auch nicht diesen Anspruch. Zum Ausgleich werden Räume zur Partizipation eingerichtet, die mich an Spielzimmer für die Kinder erinnern.

Antje Scholz ist eine Künstlerin, die nun ein Museum gestaltet. Sie hat sich die Entscheidung über diese Aufgabe nicht leicht gemacht, denn jede gestalterische Entscheidung ist ein Wagnis, dem nun nicht mehr nur sie allein, sondern auch ihre Kollegen ausgesetzt sind, die die Ausstellungen inhaltlich entwickeln oder zu ihnen beisteuern. Daraus erwachsen eine große Belastung und Verantwortung. Zudem ist die Kuratorin nun auf Inhalte verpflichtet, die außerhalb ihrer Subjektivität und eigenen Erfahrung liegen, der oben genannte ­– und scheinbar ohnehin ausgetretene – Weg des individuellen künstlerischen Ausdrucks steht ihr hier also nicht offen.

Die Inhalte, die Antje in eine Gestaltung integrieren muss, sind in zweierlei Weise vielfältig: Zum einen schlagen sie sich in verschiedenen Medien nieder, im historischen Objekt, in der Fotografie, in Filmen und Hörspuren, in Texten, Spielen und in Kunstwerken. Zum anderen sind diese Elemente Zeugnisse verschiedener Menschen, in ihnen kommt eine Vielstimmigkeit zum Ausdruck. Unterschiedliche Perspektiven, Erfahrungen und Wissensbestandteile stoßen aufeinander und müssen in ein Ganzes fließen. Und dieses Ganze ist der Raum.

Antjes kuratorischer Grundsatz ist es, dass die Integration von Vielstimmigkeit erst dann gelingen kann, wenn der Raum berücksichtigt wird, in dem diese Integration vonstattengehen soll. Seine Dimension, seine Lichtverhältnisse, seine Sichtachsen, Fenster und Türen – und bei Außenräumen seine Vegetationsstruktur und Wegeführung – alle Aspekte sollen in eine Kraft fließen, bzw. einer Ausdruckskraft dienen. Die Menschen, die diese Räume betreten, sollen sich darin frei fühlen können, sie sollen nicht gegängelt und konditioniert werden, sie sollten vielmehr Platz für sich selbst und ihre Gedanken haben. Sie sollten verstehen, was der Raum ihnen (an)bietet, damit sie ihn erkunden und sich aneignen können. Aber diese stille Mitteilung ist ergebnisoffen, sie ist eine Art Benutzeranleitung für die Sinne.

Damit sich nun aber die Vielstimmigkeit des Materials entfalten kann, ist es nötig, gestalterisch transparent zu bleiben. Das eine kann neben dem anderen nicht bestehen, wenn nicht alles sich in eine Ordnung fügt. Nur diesem Grundsatz verdankt das Oderbruchmuseum seine immer noch anhaltende Aufnahmefähigkeit von Neuem, die Räume wären andernfalls längst zu einer Überforderung geworden.

Die Arbeit ist zudem handwerklich, es gibt kaum technische Standardlösungen, alles wird vom konkreten Fall aus entschieden. Diese Arbeitsweise, eingebettet in Raumbewusstsein, Ordnung, Vielstimmigkeit und mediale Klarheit: Daraus erwächst die Schönheit des Museums, die seine Besucher immer wieder im Gästebuch notieren. Hier entspringen auch die ungewöhnliche Freiheitserfahrung und das Empfinden, etwas Wichtiges gesehen zu haben. In der Schlichtheit liegt eine Kraft, denn Schlichtes kann verstanden werden und überfordert uns nicht, wie im sonstigen Alltag immer wieder der Fall ist.

Es gibt im Oderbruchmuseum nichts, das im Sinne eines abgesicherten Resultats zu vermitteln ist, aber es erschließt sich Vieles. Es gibt etwas zu erfahren, und dieses Etwas ist das, was zwischen „Objektivem“ und „Subjektivem“ vermittelt. Wir treten ein in Räume, in denen das individuelle Bewusstsein und die Welt nicht auseinandergerissen werden, wie allerorts, sondern in denen wir frei zu beiden Sphären in Beziehung treten können. In diesem Spannungsfeld ist Leben, und dieses ermöglicht und erfordert die Aktivität des Besuchers, dem wiederum Wissen, Verantwortung, selbständiges Denken und Humor zuzutrauen ist.

Antje Scholz kuratorische Arbeit im Oderbruchmuseum verliert sich weder in der konstruktivistischen Selbstbespiegelung noch in der auftrumpfenden Wichtigtuerei der „Wissensgesellschaft“. Sie öffnet einen Raum zwischen uns Menschen und zwischen der von uns miteinander geteilten Welt, wenigstens in den Räumen dieses Museums. Das spüren die Menschen – und es ist etwas Besonderes.