Anstelle eines Nachrufs: Jörg Schröder, Bürgermeister von Seelow in seinen eigenen Worten
Am vergangenen Wochenende ist Seelows Bürgermeister Jörg Schröder gestorben. Wir trauern um ihn und möchten seiner Familie und seinen Seelowern unser herzliches Beileid sagen. 2020 berichtete er uns von seiner Arbeit und seinen Plänen für die Stadt. Wir geben seinen Bericht hier anstelle eines Nachrufs wieder.
Kenneth Anders, Programmleitung Oderbruch Museum Altranft
Ich bin gebürtiger Seelower. Im Storchennest geboren und ich wohne heute noch am Storchennest. 1997 entstand ein Wohngebiet, das man Storchennest nennt, weil es unmittelbar an der ehemaligen Entbindungsstation lag. Bis 1971 gab es die Geburtenstation noch, danach mussten Frauen zur Entbindung nach Frankfurt. Ich wurde 1965 in die erste neue Schule eingeschult, die erst ein Jahr zuvor hier gebaut worden war. Meine Ausbildung machte ich im EKO Eisenhüttenstadt – Eisenhüttenkombinat Ost. Dann ging ich zur Armee. Als ich zurückkam, war ich beim Rat des Kreises angestellt. Ich war verantwortlich für das Kulturprogramm beim Lager für Erholung und Arbeit (LEA) in Gusow. Hier machten Schüler Ferienarbeit in der Landwirtschaft als es noch so richtig flutschte, als das Oderbruch noch der Gemüsegarten Berlins war. Vormittags war Einsatz auf dem Acker und nachmittags organisierte ich die Freizeit der Jugendlichen. Neben dem Lager war ein großer Baggersee, da konnten sie baden gehen und abends war Disko. Westradio durften wir ja nicht unbedingt hören, haben wir aber. Neil Young oder Bob Dylan waren damals angesagt. In Berlin gab es Künstler, die sich mit dem Schaffen dieser Musiker vertraut gemacht hatten, übers Land zogen und über deren Entwicklung sprachen mit Musikeinlagen. Das war damals total in. Ich war schon immer organisatorisch veranlagt, diese Arbeit hat mir Spaß gemacht. Dann schickte mich mein Chef aber zur FDJ-Kreisleitung.
Direkt nach der Wende kam ich zurück zum LEA, man versuchte es touristisch aufzubauen. Der Rat des Kreises schrieb das Objekt aus und einer aus den alten Bundesländern machte daraus ein Motel. In diesem Motel waren viele Vertreter untergebracht, die den Osten vereinnahmten. Für einige Zeit habe ich als Vertreter Material für das Unternehmen Bauchemie verkauft. Das machte Spaß, aber ich wollte nach Seelow zurück. Denn ich war von früh bis abends unterwegs mit dem Auto. Damals war ich ja bereits Stadtverordneter, das war ich 15 Jahre lang. Später war ich auch Bauausschussvorsitzender, Ausschussvorsitzender Jugend, Kultur und Sport, ich kam in den Aufsichtsrat der Wohnungsbaugesellschaft, eine hundertprozentige Tochter der Stadt und ich war Chef der Stadtverordnetenversammlung. Da fragte mich der damalige Bürgermeister, ob ich mir vorstellen könnte, selbst Bürgermeister zu werden. Ich war auch 25 Jahre lang Trainer der ersten Mannschaft des SV Victoria Seelow und habe sie von der Kreisklasse bis zur Brandenburg-Liga geführt. Mit diesem Sportverein wurde ich aber immer in Verbindung gebracht und einige fürchteten, würde ich Bürgermeister, ginge Seelows ganzes Geld nur in den Sportverein. So war meine Wahl 2009 eine ganz knappe Kiste. Ich bin zwar in keiner Partei, aber SPD-Sympathisant, auch weil ich zu Beginn meiner politischen Laufbahn durch die damalige SPD-Bürgermeisterin ein wenig geformt bin.
2010, gleich als ich Bürgermeister war, sollte die Oberschule schließen. Die siebten Klassen hatten nur zwei Mal 14 Kinder, laut Schulamt brauchten wir zwei Mal 17. Sie gaben uns noch ein Jahr Zeit, um die nötige Schülerzahlen zu erreichen. Also haben wir beschlossen: Unsere Schule muss mit einer sehr guten Ausstattung und Lehrerschaft Schüler aus der Umgebung anziehen. Wir bekamen Fördergelder und haben jeden Pfennig in die Oberschule investiert. Damals hatte sie 180 Schüler, heute nach zehn Jahren sind es doppelt so viele. Wir haben als Stadt immer auf die Jugend gesetzt.
Seelow ist das größte „Dorf“ hier mit 5600 Einwohnern. Wir sind – das ist außergewöhnlich – die drittkleinste Kreisstadt in Deutschland. Als 1993 die Kreise Bad Freienwalde, Seelow und Strausberg zusammengelegt wurden, bekam Strausberg einige Stimmen mehr bei der Wahl zur Kreisstadt. Aber Potsdam entschied: Strausberg als berlinnahe Stadt hat das Potenzial, sich selbst zu entwickeln. So wurden wir Kreisstadt und haben natürlich davon profitiert. Wir sind auch Mittelzentrum, das heißt, wir haben ein Kulturhaus, ausreichend Schulen und Kitas und ein Krankenhaus, denn wir tragen Verantwortung für die umliegenden Gemeinden. Als ich Bürgermeister wurde, hatten die Abgeordneten schon ein Kita-Bauprogramm beschlossen. Unsere vier Kitas sind neu, jetzt bauen wir eine weitere Kita. Und mit dem Schulcampus haben wir hier über 2000 Kinder und Jugendliche täglich in der Stadt, etwa ein Drittel kommen aus der Umgebung. Seit einiger Zeit erleben wir deutlichen Zuzug und die Einwohnerzahl steigt sogar leicht an. Die Voraussagen, dass wir 2030 nur noch 4000 Bewohner haben würden, werden wohl nicht eintreten.
Nach der Wende gingen hier vor allem die Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft verloren. Die Landwirtschaft funktionierte noch, aber in geringerem Ausmaß. Die Handwerksbetriebe sind nicht weggebrochen, sie wandelten sich zu GmbHs oder gingen in die Selbstständigkeit. Dennoch ist der Mittelstand in Seelow sehr klein, die meisten mittelständischen Unternehmen haben zwischen fünf und zehn Beschäftigte. Die Zahl der sozialpflichtigen Arbeitsplätze liegt in diesem Bereich weit unter dem brandenburgischen Durchschnitt. Aber wir können das abfedern mit Arbeitsverhältnissen im öffentlichen Bereich: Unser Sparkassengebäude haben wir umgebaut zum gemeinsamen Verwaltungssitz für Golzow, Neuhardenberg, Seelow-Land und Seelow-Stadt. Die Kreisverwaltung mit 830 Beschäftigten ist hier unser größter Arbeitgeber.
Wir haben 54 Vereine in Seelow. Das ist einzigartig für so eine kleine Stadt. Wir unterstützen sie auch finanziell sehr gut, indem wir jährlich 700.000 Euro für freiwillige Aufgaben ausgeben. Ich bin auch Vizepräsident im größten Verein der Stadt, dem SV Victoria Seelow mit 440 Mitgliedern. Jeder Zehnte ist hier Mitglied in diesem Verein. Die Vereine sind ganz wichtig für das gesellschaftliche Leben. Alle zwei Jahre gibt es einen Vereinsball im großen Saal des Kulturhauses. Da danken die Vereine ihren besonders engagierten Mitgliedern. Jedes Jahr veranstalten wir außerdem ein Sport- und Spielfest um den 1. Mai herum. Wir ziehen das groß auf mit 3000 bis 5000 Besuchern an einem Wochenende. Ein Highlight ist das Nacht-Pokal-Laufen der Feuerwehr, ein Löschangriff-Wettkampf, bei dem Mannschaften aus ganz Ostdeutschland antreten. Danach kommt die Jugend aus dem gesamten Kreis Seelow zur Freiluftdiskothek auf dem Sportplatz, dann ist Party hier. Das ist ein richtig schönes Fest.
Anfang dieses Jahres haben wir das Kulturhaus vom Landkreis zum Preis von einem symbolischen Euro gekauft. Wir sind nun voll verantwortlich für das Haus und haben einen Kulturhausverein gegründet, der sich um das Programm kümmert. Das Kulturhaus fiel wohl nicht mehr in den Verantwortungsbereich des Landkreises, so ist es nun unsere Aufgabe als Kreisstadt und Mittelzentrum. Dennoch hatte der Landkreis einen Großteil der nötigen Sanierungskosten an diesem 60 Jahre alten Gebäude übernommen. Einiges müssen wir nun noch machen. Dem stellen wir uns, weil das Haus einfach zu Seelow gehört und wichtig ist für die Jungen als auch für die Alten. Seelow hat zum Beispiel eine Tanzgruppe mit 100 Mitgliedern zwischen zwei und 80 Jahren. Ihre Heimstatt ist das Kulturhaus, sie nutzen die Bühnen und im Keller haben sie ihren Kostümfundus. Das ist eine tolle Truppe, die sich dort jedes Jahr einbringt mit einer Gala zum Jahresabschluss. Außerdem nutzen der Chor „Harmonie“, der Kulturhausverein, die ehemalige Volkshochschule – jetzt ZEM- Erwachsenenqualifizierung – sowie zwei private Tanzgruppen das Gebäude. Wir wollen Leben in diesem Haus.
Zurzeit ist die größte Herausforderung der Generationenumschwung. Alle kommunalen Grundstücke der Stadt sind verkauft. Vor fünf Jahren hätte ich sie noch für einen Euro anbieten können. Die Verkehrsanbindung spielt natürlich eine Rolle für weiteren Zuzug. Ich bin ja immer schon ein Verfechter der Ostbahn gewesen. Auf polnischer Seite wird nun die ehemalige Ostbahnstrecke elektrifiziert, das wurde in Warschau entschieden. Ich werde demnächst einen Termin in Potsdam machen, Ministerpräsident Woidke ist Polenbeauftragter, da werde ich ihn mal an seine Funktion erinnern. Im Bundesverkehrswegeplan steht die alte Ostbahnstrecke nicht drin. Es wäre ideal, wenn sie zweigleisig ausgebaut und elektrifiziert würde von Strausberg bis nach Kostrzyn. In unserer Arbeitsgruppe haben wir das ausgerechnet: Von Seelow nach Ostkreuz könnte man in 51 Minuten fahren. Aber da muss man auch passende Bedingungen schaffen. Wenn der Zug nur zwei Waggons hat, aber Passagiere für drei Waggons auf dem Bahnsteig stehen, macht das keinen Spaß. Ich habe das ein paarmal ausprobiert, gefilmt und fotografiert, sonst versteht ja keiner in Potsdam, was für eine Abenteuerfahrt das sein kann.
Vier Großfamilien mit mehreren Kindern aus Berlin und Müncheberg habe ich im letzten Jahr begleitet bei ihrer Ankunft in die Stadt. Unsere Seelower Wohnungsbaugesellschaft, Sewoba, ist sehr aktiv, steht finanziell gut da und unterstützt uns bei der Stadtentwicklung. Allein in Seelow hat sie 1300 Wohnungen, das heißt, die Hälfte der Stadteinwohner wohnt kommunal. Im Aufsichtsrat, dessen Vorsitzender ich bin, haben wir festgelegt, dass die Wohnungen nach einem Auszug richtig in Ordnung gebracht werden und auch zusammengelegt werden können. Die nächste Familie muss sich da heimisch fühlen.
Junge Leute sollen sich in der Stadt wohlfühlen. Wir nehmen an den drei brandenburgischen Städtebauprogrammen teil. Mit diesen Fördermitteln bauen wir nun zum Beispiel ein Wohngebiet mit 290 Wohnungen, aber auch die Infrastruktur und Angebote müssen stimmen: Spielplätze, noch mehr Kitas, eine neue Dreifelderturnhalle, eine Skaterbahn und einen Anbau für den Hort. Die Jungen, die nun herziehen, muss man ein bisschen an die Hand nehmen und sagen: „Hier sind die Vereine, hier kannst du dich einbringen und du kannst auch Abgeordneter werden.“ Ich habe es geschafft, junge Leute zu gewinnen, die sich zur Kommunalwahl 2018 gestellt haben. Fünf von ihnen wurden auch gewählt und die anderen vier habe ich als sachkundige Einwohner gewonnen, sie arbeiten in den Ausschüssen mit. Man muss auf die Leute zugehen.
Mir liegt auch die Aufwertung der Innenstadt sehr am Herzen. In meiner Jugend gab es sehr viele Kneipen und Gaststätten hier. Wenn man in der Woche gegen 16 Uhr in die Kneipe ging, weil man morgens ja wieder arbeiten musste, bekam man keinen Platz mehr. In die Gaststätte gehen, auch das ist eine andere Kultur geworden. Eine Gaststätte mit vorzüglicher Küche war immer der „Schwarze Adler“ und ist es noch. Andere Restaurants wie zum Beispiel Italiener sind nicht bis hierhergekommen. Fünf Gastrobetriebe hat Seelow zurzeit. Nun gibt es auch ein griechisches Restaurant und der Betreiber ist zufrieden hier. Aber noch ein, zwei Cafés oder Gaststätten mit durchgehenden Öffnungszeiten wären ganz schön. Dieses Flair fehlt ein bisschen in Seelow.
Dienstags und donnerstags ist Markttag. Da werden auch Textilien oder Kurzwaren verkauft, ich wünschte mir aber auch mehr Produkte von unseren Bauern. Die verkaufen lieber ab Hof, weil es sich nicht rechnet, extra für den Markt jemanden anzustellen. Ich habe mir das mal angeschaut, der Wochenmarkt in Nienburg, Niedersachsen, wurde zum schönsten Markt Europas gekürt, da gibt es vom Fleischer bis zum Bäcker und unzähligen Bauernhofprodukten alles. Mit meiner Citymanagerin will ich mit den Bauern aus der Umgebung ins Gespräch kommen, wie sie über einen solchen Wochenmarkt denken. Einmal im Vierteljahr könnte man auch die Marktschreier herholen und Straßenmusikanten – in diese Richtung überlegen wir aktuell. Wenn es klappt, schaffen wir einen großen Wiedererkennungswert für Seelow und einen lebendigen Marktplatz.
25 Projekte kalkuliert mit einem Volumen von 40 Millionen Euro sind in den nächsten zehn Jahren in der Stadt geplant. Meine Legislatur geht bis 2025, dann bin ich 16 Jahre lang Bürgermeister und auch schon 68 Jahre alt. Alle, die mir heute sagen: „Na, Jörg, kannst ja noch eine ranhängen“, sage ich nur, „vielleicht.“ Ich bin ja Bürgermeister mit Herzblut.
Aufgeschrieben von Pamela Kaethner