Ein sehr persönlicher Nachruf auf Erdmute Rudolf
Am Beginn der 2000er Jahre war ich erst wenige Jahre in der Region angekommen und besuchte eine Tagung im Freienwalder Eduardshof über das Oderbruch. Interessierte Bewohner, Wissenschaftler, Vertreter des Gewässer- und Deichverbandes und auch die Landes- und sogar die Bundesebene kamen hier recht zwanglos zusammen, das war damals noch recht normal.
Neben mir saß eine Frau, die damals etwa siebzig Jahre alt gewesen sein muss. Sie sprach mich an und wollte wissen, warum ich gekommen war. Ich berichtete ihr von meinen Plänen, eine Plattform zur Verständigung über die Zukunft dieser Landschaft aufzubauen. Sie zeigte mir verschiedenerlei Material, das von ihrem Bemühen um eben diese Fragen zeugte – Flyer, Programme und manches mehr. Zum Beispiel hatte sie an den großen Feierlichkeiten zum 250-jährigen Jubiläum der Trockenlegung des Bruchs mitgewirkt. Mir fiel ihre ebenso vorsichtige wie auch aufgeschlossene, fast ein bisschen neugierige Haltung auf. Das war ungewöhnlich, denn zu jener Zeit war ich es eher gewohnt, mit zurückhaltender Skepsis behandelt zu werden.
Diese freundliche, offene Frau war Erdmute Rudolf. Seit unserer ersten Begegnung blieben wir in Kontakt. Sie verfolgte alles, was sich in meiner Arbeit entwickelte, half mir mit eigenen Beiträgen (zum Beispiel mit einem sehr schönen Text über die Kirchen im Oderbruch), machte mir in schwierigen Zeiten Mut und legte wahrscheinlich hier und dort in ihrer ebenso höflichen wie beharrlichen Art bei Dritten ein Wort für diesen gedeihenden Arbeitszusammenhang ein. Wenn sie der Meinung war, wir müssten reden, meldete sie sich ohne Scheu telefonisch und bat um einen Termin. So saß ich manches Mal bei ihr auf dem Sofa, oder sie kam vorbei.
Erst nach und nach erschloss sich mir das weite Panorama von Erdmute Rudolfs Leben. Einmal erzählte sie mir, wie sie 1960, nach dem Studium, als junge Meliorationsingenieurin ins Oderbruch geschickt wurde und allein auf dem Wriezener Bahnhof stand. Wriezen sah zu jener Zeit, obwohl der Krieg schon gut 15 Jahre zurücklag, immer noch zerstört und hoffnungslos aus. Dieser Moment, den wir 2015 versuchsweise in einer Ausstellung verbildlichten, war wie ein Nullpunkt, von dem aus sie sich nach und nach einen großen landschaftlichen Reichtum erschloss. Denn sie akzeptierte die Konfrontation mit der Zerstörung als einen „Anfang guten Mutes“. So wurde ihr durch und durch sesshaftes Leben zu einer wirklich vielfältigen Reise. Sie führte in die Liebe und zu einer großen Familie, in die Landwirtschaft und Melioration, in die regionale Baukultur und den Denkmalschutz (am Dammkrug Kunersdorf und später an den berühmten Kunersdorfer Grabkolonnaden), in die Landschaftsarchitektur (der Park Kunersdorf wurde durch ihr Engagement Schritt für Schritt wieder sichtbar), in die Kirche (viele Jahre war sie als Älteste aktiv), in die Kommunalpolitik (sie war Kunersdorfs Bürgermeisterin) und in die Geschichtsschreibung (sie schrieb ein Buch über ihre faszinierende Quellenrecherche zum Amt Friedland, und pflegte das Andenken an die Frauen von Friedland).
Durch ihr bescheidenes Auftreten konnte man all das leicht übersehen. Ich bin sicher, von vielem, das sie getan hat, habe ich nur eine vage Vorstellung. Ihre soziale Technik war wie ein anhaltendes kurzes Zögern: Nichts wurde übereilt, alles wurde bedacht. So wahrte sie auch ihre eigene Zurückhaltung.
Nach fünf Jahren am Oderbruchmuseum sichtete ich im Jahr 2020 die Fotos aus dieser intensiven Phase. Bei den Veranstaltungstagen, den Ausstellungseröffnungen und Lesungen fiel mir auf, dass Erdmute Rudolf, längst weit über achtzig Jahre alt, fast immer auf den Bildern zu entdecken war. In meiner Rolle als Veranstalter hatte ich das oft übersehen. Aber sie gab mir in anschließenden Telefonaten oder bei direkten Begegnungen meist zu verstehen, dass ich mir darüber keine Sorgen machen müsste. Sie freue sich, dass sich alles so entwickele.
2020 erzählte sie uns ihre Geschichte für unser Jahresbuch MENSCHEN. Es hat mich gefreut, dass sie selbst die Worte fand, ihr Leben in dieser und für diese Landschaft zu beschreiben. Das Foto dazu zeigt eine kluge, gelassene Frau, die genau hinschaut.
Danke, liebe Erdmute, für alles. Nun bist du, das wissen wir beide, bei Gott.
Kenneth Anders