Sich in die Mitte stellen

Offene Gesprächsrunde zum Programmtag am 05.06.´21
Ein Werkstattgespräch über dörflichen Eigensinn aus der Sicht von Ortsvorstehern und Bürgermeistern

Dörfer haben es im 21. Jahrhundert schwer. Je mehr Arbeit und Wohnen auseinanderfallen, umso schneller droht das Leben aus ihnen zu entweichen. Wer das nicht will, muss etwas tun – die Menschen zusammenführen, die Freiwilligen Feuerwehren unterstützen, Feste ausrichten, die letzten Arztpraxen oder Geschäfte im Dorf halten. Im Mittelpunkt dieses Bemühens stehen meist die Ortsvorsteher und Bürgermeister mit ihren Gemeindevertretungen und Ortsbeiräten. Fünf von ihnen berichteten am 5. Juni bei einem Werkstattgespräch am Oderbruchmuseum von ihren Erfahrungen: Horst Wilke, langjähriger Bürgermeister der Gemeinde Neulewin, Kerstin Herrlich, seine Nachfolgerin, Ines Zochert-Köhn und Evelin Miethke, Ortsvorsteherinnen von Sietzing und Ortwig und Frank Schütz, Bürgermeister von Golzow und darüber hinaus ein Aktivist in der europäischen Dorfbewegung, die die ländlichen Interessen auf der politischen Ebene sichtbar machen möchte. Was haben diese Menschen bei ihrer Tätigkeit vor Augen, was belastet sie, worum kämpfen sie? Und gibt es so etwas wie dörflichen Eigensinn?

Da ist zunächst die Entscheidung, überhaupt ein kommunales Amt anzutreten. Dafür brauche man schon ein gutes Maß an Eigensinn, so Ines Zochert-Köhn. Denn diese Arbeit ist ehrenamtlich, man hat zunächst keine Vorteile davon, nur zusätzliche Termine und Pflichten, im besten Falle etwas Anerkennung. Warum nimmt man so etwas an? Das konnten die Gesprächspartner kaum in Worte fassen. Die Aufgaben wachsen nun einmal scheinbar jenen zu, die den dörflichen Problemen gegenüber aufgeschlossen sind. 

Landleben heißt Selbermachen: Vieh halten und schlachten, Gemüse anbauen, Reparieren und Bauen, sich gegenseitig helfen. Die Zukunft der Dörfer hängt auch davon ab, ob diese Fähigkeiten und Traditionen gemeinsam weitergeführt werden. Dass dies im Zuge des Bevölkerungswandels manchmal schwierig ist, berichtet Evelin Miethke. Man müsse integrieren und versuchen, die Leute zusammenzubringen. Das sei auch möglich, meint Horst Wilke, es sei denn, sie wollten sich um jeden Preis streiten. Deshalb ist man als Bürgermeister in der Regel froh, wenn entzündliche Phasen wie z.B. Flurneuordnungen friedlich überstanden sind. Frank Schütz ist es bei Auseinandersetzungen in den Dörfern wichtig, aus Streitpunkten keine dauerhaften Fronten werden zu lassen. Es sei zum Beispiel in Ordnung, wenn Bewohner sich gegen den Bau einer neuen Mastanlage aussprächen, aber beim nächsten Thema sollte sich dieser Konflikt nicht fortschreiben. Man müsse immer wieder neu aufeinander zugehen. In den Gemeinderatssitzungen brauche es deshalb Fingerspitzengefühl, zum Beispiel beim Umgang mit dem formalen Rederecht. Nähme das Redebedürfnis und die Aufregung überhand, sei eine gesonderte Einwohnerversammlung auf jeden Fall die bessere Wahl. Hier spielt wieder der Standort eine große Rolle – Aussprachen in Kirchen, so fasst Schütz seine Erfahrung zusammen, verliefen meist harmonischer als anderswo. Für die tägliche Kommunikation werden übrigens die verschiedensten Kanäle genutzt, am besten scheint aber immer noch das Gespräch übern Gartenzaun, weshalb ein regelmäßiger Gang oder eine Fahrradrunde durchs Dorf unverzichtbar sind. 

Gegenüber der Politik beklagte Wilke eine chronische finanzielle Benachteiligung der Dörfer, weshalb er mit anderen Kommunalpolitikern gegen die Festlegung der Kreisumlage geklagt hat. Die Dörfer brauchten mehr Gestaltungsspielraum durch eigenes Geld – und zwar nicht nur wegen der damit verbundenen Entwicklungsmöglichkeiten, sondern auch, um die Mitbestimmung anzuregen: Nur dort, wo es was zu verteilen gäbe, habe man auch etwas zu entscheiden und zu diskutieren. Ärgerlich seien zudem die neuen Verwaltungsvorschriften hinsichtlich der doppelten Buchführung, die für ungeübte und ehrenamtliche Kommunalvertreter ganz schwer zu lesen seien und die kommunale Selbstverwaltung für die Menschen abschreckender machten. Diese Barriere des Bürokratischen entsteht auch in anderen Bereichen wie dem Denkmalschutz, dem Naturschutz oder im Baurecht. Zwischen dem, was heute Gesetz und Regel ist und dem Leben, wie es nun einmal tatsächlich geführt wird, gibt es eine große Kluft. Es sind vor allem die Verantwortlichen in der kommunalen Selbstverwaltung, die diese Kluft täglich mit ihrer Arbeit überwinden müssen. 

Gemeinsam müssten die Dörfer deshalb für politische Rahmenbedingungen streiten, in denen ihre Interessen gewahrt bleiben. Von der nächsten Stadt verwaltet zu werden, das sei der ungünstigste Fall für die Wahrung des dörflichen Eigensinns, aber schon die Preisgabe der Selbstverwaltung auf der Ebene einzelner Dörfer zugunsten größerer Gemeinden wurde in der Runde ganz klar als Verlust beschrieben. Warum Ortsvorsteher, wenn sie nicht zusätzlich ein Mandat als Gemeindevertreter erlangt haben, kein Stimmrecht im Gemeinderat haben, konnte niemand erklären – und alle waren sich darüber einig, dass dies unbedingt geändert werden müsse.  

Darüber hinaus gibt es aber auch Interessen, die aus der Lage in einer gemeinsamen Landschaft wie dem Oderbruch resultieren. Ob es um das Wasser, die Gräben und Schöpfwerke oder die Entwicklung der Biberpopulation geht – hier müssten die Dörfer gemeinsam aktiv werden. Vor einigen Jahren ist das im Zuge der oderbruchweiten Demonstrationen gut gelungen, derzeit aber macht sich wieder bemerkbar, dass es keine gemeinsame Selbstverwaltungsform für die Dörfer gibt, wie sie Werner Mielenz, Bürgermeister von Neutrebbin, im letzten Jahr einmal vorgeschlagen hat. 

Sich gemeinsam etwas vornehmen, Projekte machen und Pläne schmieden, damit kann man Dörfer in ihrem Eigensinn auch bestärken. Was immer es ist – die Rettung einer Kirchruine, die Ausrichtung eines Oderbruchtags, die Anlage von Blühwiesen oder die gemeinsame Entwicklung des Kulturerbes Oderbruch – die Dörfer brauchen Ziele, für die sich das Engagement lohnt. 

Das Tagwerk der Ortsvorsteher und Bürgermeister ist vielseitig und manchmal kaum mit Händen zu fassen. Es sind Menschen, die sich in die Mitte stellen. Nach diesem Gespräch dachte ich einmal mehr, man sollte es ihnen nicht zu schwer machen.  

Kenneth Anders